„Der Glaube hat mich nie losgelassen“

Nachricht Nordwohlde, 30. Januar 2015

Nordwohlde verabschiedet Pastor Walter Rosenbaum

2015-01-30Rosenbaum
Nordwohldes Pastor Walter Rosenbaum geht in den Ruhestand. Er und seine Frau Karin lassen nicht nur Freundschaften und Spuren in der Gemeindearbeit zurück, sondern auch die große Christusfigur über dem Altar. Eins von vielen Kunstwerken der Bildhauerin Karin Rosenbaum für die Kirche. Foto: Miriam Unger

Walter Rosenbaum ist ein Mensch, dem man Ewigkeiten zuhören kann. Das liegt zum einen daran, wie er spricht mit seiner ruhigen, gemütlichen, sehr tiefen Stimme und dem rollenden fränkischen Rrrr. Und zum anderen daran, was er mit dieser Stimme erzählt. Es sind keine Floskeln, keine weltfremden, komplizierten theoretischen Bilder. Sondern knackige, druckreife Sätze, in denen Bildung genauso aufblitzt wie Bodenständigkeit. Und große Lebenserfahrung ebenso wie kluger Humor. Ein geborener Sprecher. Dass so jemand mal für einen Moment daran gezweifelt hat, ob Pastor wirklich der richtige Beruf für ihn sein könnte, ist schwer vorstellbar.

Aber an der Sprachfähigkeit hat es auch nicht gelegen. „Angeblich soll ich als Kind schon den Wunsch gehabt haben, Pastor zu werden. Sagte man in der Familie. Ich selber kann mich daran aber nicht erinnern.“ Walter Rosenbaum lacht. „Es war eine ganz normale Entwicklung: Durch meine Eltern lernte ich christlichen Glauben, Kirche und Gottesdienste kennen und wurde von der Kinderkirche erfasst. Ich fand das toll mit den vielen Geschichten und gemeinsamen Ausflügen. Im Gymnasium traute ich es mir noch nicht zu, Theologie zu studieren. Als ich später aber doch damit anfing, lernte ich eine sehr fromme Gruppe kennen. Und da wurde mir gesagt, es sei notwendig, ein richtiges Erweckungserlebnis vorweisen zu können, um ein wahrhaftiger Christ und  Theologe zu werden. Das hat mich vorübergehend verunsichert, kam mir aber im weiteren Nachdenken dann doch sehr einseitig und gesetzlich vor. Der Glaube hat mich nie losgelassen. Also habe ich mir gesagt: Was soll’s, ich probier’s.“
Die richtige Entscheidung. Den Eindruck hat man die ganze Zeit über, wenn Walter Rosenbaum von seiner Zeit als Pastor erzählt. Und es gibt viel zu erzählen. Rosenbaum ist jetzt 65 Jahre alt. Diesen Sonntag verabschiedet die Kirchengemeinde Nordwohlde ihn in den Ruhestand.
Nach dem Gottesdienst um 15 Uhr mit Chören und vermutlich sehr vielen Beiträgen gibt es einen Empfang im „Haus der Gemeinde“.
Walter Rosenbaum blickt von seinem Schreibtisch in den Garten. „Als wir damals in diese Gemeinde kamen, waren meine Frau Karin, unsere beiden Kinder Lou-Ann und Philip und ich erst mal erstaunt, was für ein großzügiges Wohnangebot hier auf uns wartete. Das Haus und dieser Garten, so viel Platz - das war ja wie im Paradies. Das waren wir nicht gewohnt.“
Das Pfarrhaus in Nordwohlde ist nicht größer als andere Häuser. Aber Familie Rosenbaum hatte bis Ende 1998 ganz anders gelebt. In einer Stadtrandgemeinde von São Paulo, Brasilien. Statt Garten und Gästezimmer gab es Armut und Kriminalität. An soetwas wie eine Dienstwohnung für einen Pastor war gar nicht zu denken.
Nach dem Vortrag eines Auslands-Pastors aus Brasilien an seiner Uni hatte Walter Rosenbaum Feuer gefangen. 1977 ging er während des Studiums für ein Austauschjahr nach Brasilien. „Mich hat die Möglichkeit herausgefordert, mein Christsein weltweit ein- und ausüben zu können. Und nicht nur isoliert vor Ort irgendwo hier in Deutschland. Das war eine ganz wichtige Entscheidung für mein Leben. Mit der Sicherheit, dass ich nach dem Jahr wieder zurückkehren konnte, war es mir möglich, voll und ganz auf die Suche zu gehen, mich allen Herausforderungen offen zu stellen und vieles zu riskieren. So eine Chance hat man ja normalerweise nicht oft.“
Er ging in die Armutsviertel, wo Gewalt, Prostitution, Drogenhandel, Mangel und Ausweglosigkeit regierten. Er lebte zusammen mit katholischen Priestern selbst in einer Favela. „Da lernt man hautnah kennen, was Evangelium noch alles bedeuten kann“, meint Walter Rosenbaum. „Und was ich damals hinsichtlich der Ökumene erlebte, war im Vergleich zum heutigen Stand bereits wesentlich fortschrittlicher.“
Nicht nur die Gegensätze von Arm und Reich im Land beschäftigten ihn. Sondern auch eine ganz andere Art von Kirche, die er kennenlernte: „Das ist ein Riesenunterschied zu dem, was wir in Deutschland kennen“, erzählt er. „In Brasilien gibt es keine Kirchensteuer, da lebt die Gemeindearbeit von freiwilligen Beiträgen. Und von einer ganz anderen Beteiligung. Predigten oder Amtshandlungen sind nicht auf Personen beschränkt, die erst nach einem Theologie-studium auf die Kanzel steigen dürfen. Die Ehrenamtlichen übernehmen pfarramtliches Tun ständig und ganz selbstverständlich. Die Pastoren haben oft nicht nur eine, sondern mehrere Kirchengemeinden zu betreuen, die in großen Entfernungen voneinander liegen. Man kann mit einer Beerdigung oft nicht so lange warten, bis der Pastor wieder da ist. Auch wegen der Temperaturen. Da muss innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden. Der Einsatz von Ehrenamtlichen  ist daher schlicht notwendig.“
Walter Rosenbaum gefiel diese praktische, ursprüngliche Form von lebendiger, lebensnaher Theologie.
Verändert kehrte er nach dem einen Jahr zurück.
Er nahm das Studium wieder auf, „und nach ein paar Jahren kam die Anfrage aus Brasilien, ob ich mir vorstellen könnte, wiederzukommen.“ Er überlegte nicht lange.
1982 brach er zum zweiten Mal auf nach São Paulo. Alleine und mit 20 Kilo Gepäck. Dieses Mal ohne zeitliche Begrenzung.
1998 kam Walter Rosenbaum im Rahmen eines Austauschs mit einem deutschen Pastor zurück. Nach Nordwohlde. Inzwischen mit Frau und zwei Kindern.
Die Zeit dazwischen prägt die Familie bis heute. „Diese Erfahrung, mal komplett auf die grundlegendsten Dinge zurückgeworfen zu sein, macht man ja selten. Dass ein Dorf auf keiner Landkarte vorkommt, weil die Leuten ihre primitiven Hüttchen an einen Hang oder an den Rand eines Gewässers bauen, das mehr Kloake und Umweltverschmutzung ist als alles andere. Dazu kommt die hohe  Kriminalität, die einen ständig umgibt. Die Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur, die damit beschäftigt war, alles zu verfolgen, was offiziell politisch links erschien. Die arme Bevölkerung war das Letzte, was die Regierung wahrnahm. Gewalt, Prostitution, Drogenhandel, die ganze Palette - und mitten drin waren wir und haben versucht, nach Auswegen zu suchen. Es war schon extrem“, erinnert sich der Pastor. „Wenn ich heute hier Artikel lese über die sogenannte  ,Armut in Deutschland‘, dann denke ich oft: Ein Monat in einer Favela würde die Perspektive schon sehr verändern.“
Walter Rosenbaum ist nachdenklich geworden. „In Deutschland ist man eingebettet in die Hektik unserer modernen Zeit. Viele Leute wollen immer einen Eventcharakter und große Showeffekte haben. Diese Supermarktmentalität mag ich nicht. Viele gucken: ,Was hat die Kirche mir denn so zu bieten?‘ Und wenn es vom Spaßfaktor her nicht dem entspricht, was man anderswo bekommt, verabschieden sie sich. Dabei ist das, was uns als Kirche ausmacht, so besonders und so wertvoll, dass man es gar nicht mit all diesen anderen Dingen vergleichen kann. Das verstehen manche leider erst, wenn sie in einer persönlichen Notlage sind. Finde ich so schade!“
Aus den ursprünglich geplanten sechs Austausch-Jahren in Nordwohlde sind 16 geworden. „Und wir haben es nie bereut“, sagt Walter Rosenbaum.
Er und seine Frau Karin - Künstlerin und Bildhauerin, die sich in der Gemeinde ebenfalls sehr engagiert hat - lassen eine lebendige Gemeinde, einen Kreis von aktiven Ehrenamtlichen, viele Freundschaften und Kunstwerke zurück, die die Kirche und den Ort heute prägen.
Sie ziehen in den nächsten Wochen nach Bruchhausen-Vilsen. Und wie wird es in der Gemeinde weitergehen?
„Die Stelle wird ausgeschrieben, und wir hoffen, dass wir bald einen geeigneten Nachfolger finden“, erklärt Superintendent Jörn-Michael Schröder.
Walter Rosenbaum hofft, dass das Pfarrhaus in Nordwohlde bald wieder bewohnt ist: „Ich weiß, dass es nicht leicht wird, in einer Gemeinde mit knapp 1.000 Mitgliedern eine  Pfarrstelle vor Ort mit einem eigenem Kirchenvorstand zu erhalten. Und es wird möglicherweise auch schwierig, schnell einen Pastor dafür zu gewinnen. Es gibt weniger theologischen Nachwuchs, der nach der Uni noch ins Pfarramt möchte. Heutzutage können sich die Studienabgänger nach der Vikariatszeit aussuchen, wohin sie möchten. Bei jüngeren Kollegen zählen dann natürlich Sachen wie eine günstige Infrastruktur. Aber da sind wir hier auch gut aufgestellt. Wir haben unseren Kindergarten, eine Grundschule. Das Gymnasium in Syke und die Krankenhäuser in Bassum und Bremen sind nicht weit. In Syke und Bassum gibt es auch einen Bahnanschluss. Also: Man kann hier in Nordwohlde wirklich gut leben.“
Was könnte einen jungen Kollegen sonst noch überzeugen? „Er hat tolle Herausforderungen im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. Wir haben Jugendräume und schon alle möglichen Modelle für Kinderkirche angeboten. Das kann er alles auf neue Beine stellen“, wirbt Walter Rosenbaum. „Und wir haben baulich viel verwirklicht in den letzten Jahren: Die Kirche und die Orgel sind  renoviert und der Kirchplatz umgestaltet worden. Das Haus der Gemeinde ist in einem Topzustand…“
Größter Schatz und Aushängeschild der Kirchengemeinde seien aber mit Abstand die aktiven Ehrenamtlichen. „Das ist eine tolle Gruppe, die mitarbeitet und sich wirklich mit all ihren Begabungen und Fähigkeiten einbringt“, schwärmt Rosenbaum.
„Darüber hinaus ist die regionale Zusammenarbeit auf einem guten Weg. Der neue Stelleninhaber wird auch in der Kirchengemeinde Bassum tätig sein. Ihre Aushängeschilder sind die Kirchenmusik, ein gutes Kollegenteam und ein wunderschönes Ensemble aus Fachwerkhäusern rund um die imposante Stiftskiche.“
Was wird er selbst am meisten vermissen, wenn er Nordwohlde verlässt - außer seinem Team, den Nachbarn, Gemeindemitgliedern und Freunden?
„Diese schöne kleine Kirche da drüben.“ Und die  Begründung dafür klingt weniger wie eine bloße Gebäudebeschreibung, sondern wie die Zusammenfassung dessen, was Walter Rosenbaum in seiner gesamten beruflichen Laufbahn wichtig war: „Das ist eine gute Kirche, weil sie so schlicht ist. Da ist nichts Übertriebenes. Nichts, das vom Wesentlichen ablenkt. Ich brauche keine protzige Kirche, die aussieht wie ein Museum. Ich mag genau diese kleine Kirche hier mit ihrem schlichten Inneren. Und das, was in dieser Kirche passiert.“
 
Miriam Unger 30.01.2015