„Sein Schatten fällt mitten in mein Leben“

Nachricht Bücken, 23. März 2015

„Ökumenischer Kreuzweg der Jugend“ wird in Bücken eröffnet / Teenager gestalten Gottesdienst mit Texten, Musik und Kunst / Landesjugendpastorin Cornelia Dassler: „Der Bücker Dom ist genial als Auftakt!“

2015-03-23Kreuzweg Vorbereitungsteam
Die Jugendlichen aus dem Vorbereitungsteam des Kreuzweg-Gottesdienstes: Gerrit Ahlers (18 Jahre) aus Bücken, Steffen Thamm (17) aus Twistringen, Sophia von Lingen (17) aus Bücken und Jan Dirk Keine (18) aus Holtrup (von links nach rechts). Foto: Miriam Unger

Die Menschenmenge ist wie ein Meer, das nach rechts, nach links und zum Horizont hin kein Ende zu haben scheint. Eine anonyme Masse aus Köpfen, Augen und Händen in einem gräulich-grünen Dunst. Nicht zählbar, nicht greifbar, nicht auseinander zu halten. Vor ihr schleppt sich ein einzelner Mensch die Straße entlang. Scharlachrot hebt er sich von der gesichtslosen Menge ab. Wie ein flammender Schandfleck. Keine Chance, sich vor den Blicken zu verbergen. Es gibt kein Versteck und keinen Ausweg mehr aus seinem Schicksal. Er ist gebrandmarkt, und jeder kann das sehen. Alle beobachten ihn, aber keiner traut sich, ihn direkt anzusehen. Ihm zu helfen sowieso nicht. Das Meer aus Menschen starrt ihn nur an wie ein Meer aus Fischen. Stumm, glatt und teilnahmslos. Als würde keiner sehen, dass hier ein Mensch leidet und verzweifelt und ins Verderben gerissen wird.

Diese Szene könnte sich überall abspielen. Und zu jeder Zeit.

Heute morgen in der Schule, als ein Jugendlicher sich bei seinem Referat hoffnungslos verhaspelt, hilfesuchend in die Klasse guckt, und alle lachen.

Vor ein paar Jahren an der Bushaltestelle, als jemand zusammengeschlagen wird, aber die Umherstehenden können, selbst starr vor Entsetzen, so schnell nicht helfen.

1945, als eine Gruppe von jüdischen Gefangenen von einem Transporter flüchten kann und durch eine Kleinstadt läuft, in der die Menschen an den Fenstern stehen, aber keiner öffnet eine Tür.

Oder noch viel länger in der Vergangenheit: Als Jesus zum Tode verurteilt und auf den Weg zu seiner Hinrichtung geschickt wird. Auf seinen Kreuzweg. Vorbei am Menschenmeer, das nur starrt und spottet. Um diese Strecke geht es beim „Ökumenischen Kreuzweg der Jugend“, der am Wochenende im niedersächsischen Bücken eröffnet wurde. Als offizieller Auftakt und stellvertretend für alle Kreuzweg-Veranstaltungen in Deutschland.

Der ortsansässige Künstler „Pablo“ Holger Hirndorf hat die Stationen des Weges bildlich umgesetzt. Auf alten Kupferblechen, die im vergangen Jahrhundert als Dach auf den Türmen der St. Materniani et St.Nicolai-Kirche in Bücken lagen. „Als 1997 bei Bauarbeiten die Turmabdeckung runtergenommen wurde, habe ich mir die Genehmigung geholt, dass ich mit aufs Gerüst steigen darf. Und da habe ich diese Kupferplatten gesehen mit ihrer wunderschönen Marmorierung von Grün bis Schwarz - vom Himmel geprägt“, erzählt Hirndorf. „Das wollte ich gerne als etwas Neues auf die Erde zurückbringen. Ich habe 250 Quadratmeter gekauft, und dann kam die Idee, aus den alten Kirchturm-Platten einen Kreuzweg für die Kirche zu gestalten.“

Der 52-Jährige arbeitete mit den Spuren, Verfärbungen und Ablagerungen der alten Bleche, auf denen er die klassischen Stationen des Kreuzweges darstellt. Mithilfe von bildnerischen Darstellungen und Fotofragmenten schafft er dabei aber auch einen aktuellen Blick auf die Geschichte, der fast schon erschreckend gegenwärtig ist. Die bekannten Symbole aus der Vergangenheit – das Kreuz, weite Gewänder, die Dornenkrone – kombiniert „Pablo“ Holger Hirndorf mit Menschen in moderner Kleidung und mit Medien unserer Zeit.

So strauchelt Jesus auf dem Weg zur „Schädelhöhe Golgota“ und stürzt unter der Last des riesengroßen, schweren Kreuzes, das er auf dem Rücken trägt. Er liegt entkräftet auf dem Boden und versucht, mit den Händen sein Gesicht zu verbergen. Vielleicht hofft er, sich für diesen einen kurzen Moment der Öffentlichkeit entziehen zu können. Aber „Pablo“ Hirndorf lässt einen Kameramann aus der Menge hervorspringen, der das Leiden hautnah in Großaufnahme dokumentiert. Er leuchtet die Szene halogenhell aus. Und in diesem Rampenlicht gibt es weder Schutz noch Schatten.

Bilder, die die alte Geschichte vom Kreuzgang übertragen in unsere heutige Zeit mit ihren allgegenwärtigen Handykameras und der blitzschnellen, weltweiten Veröffentlichung im Internet. Und sie damit nicht nur nachfühlbar machen, sondern auch ein Stück weit vergleichbar mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Das wird schnell deutlich, als das Programm des Jugendkreuzwegs in Bücken beginnt, das die Bilder mit Texten, Gebeten und Musik begleitet.

Ein Redaktionsteam um Landesjugendpastorin Cornelia Dassler schreibt den Leitfaden für die Kreuzweg-Veranstaltungen in ganz Deutschland. „Wir entwickeln die Materialien für diesen Gebetsweg jedes Jahr neu und in einem anderen Ort“, erzählt Dassler. „Und wir freuen uns, dass wir in diesem Jahr hier sein können. Denn Bücken war einfach genial als Auftakt, weil hier schon der Kreuzweg von ,Pablo‘ Holger Hirndorf fest installiert in der Kirche hängt. Und auch, weil es eine evangelische Kirche ist. Das ist seltener als ein Kreuzweg in einer katholischen Kirche.“

Die Ausgestaltung des Abends hat ein Team von Jugendlichen aus der Kirchengemeinde Bücken und aus dem Dekanat Twistringen übernommen. Gemeinsam mit Joachim Bruns und Band, dem Bücker Gemeindechor, Kirchenkreisjugendwartin Tanja Giesecke, Janna Eckert vom Kirchenkreisjugenddienst und dem katholischen Dekanatsjugendreferenten Martin Holtermann leiten sie die Gottesdienstbesucher durch sieben Stationen des Kreuzweges.

Zunächst wird jeder Abschnitt erklärt. Der erste heißt: „Im Schatten des Kreuzes“. Er erzählt von Jesus‘ Verurteilung und dem demütigenden Weg durch Spott, Schmerzen und Schaulustige hoch auf die „Schädelhöhe Golgota“. Auf einer Großbildleinwand ist eine Fotografie des dazugehörigen Kunstwerks von „Pablo“ Hirndorf zu sehen. Einer der Jugendlichen beschreibt die Szene auf dem Bild. Und ein anderer die Gedanken und Gefühle, die beim Betrachten entstehen: „Ein Mensch, der sein Kreuz schleppt, kommt auf mich zu. Sein Schatten erreicht mich schon und fällt über mich. Mitten in mein Leben. Vielleicht komme ich noch drum herum, wenn ich kein Interesse zeige? Mich an die Wand drücke? Sie vorbeigehen lasse?“

Die Interpretationen sind flüchtig. Nie zu detailliert, nie zu persönlich. Sie geben nur eine ungefähre Richtung vor. „Warum schaust Du weg? Warum drehst Du Dich weg?“ Die Sprecher stellen Fragen und lassen Pausen, damit die Besucher sie selbst beantworten können. Jeder für sich. „Bin ich feige? Wovor habe ich Angst? Weiche ich aus? Oder muss ich mich dem Chaos und den Ängsten in meinem Leben stellen?“

Die Perspektiven wechseln mit jeder Station. Mal ist es die mutlose Masse, in die man sich hineinversetzt. Mal der Mann, der sich eigentlich auch nicht mit hineinziehen lassen will, aber Jesus dann doch hilft, indem er ihm kurz das Kreuz abnimmt. Mal beschäftigt man sich mit dem Verurteilten, der leidet. Mal mit dem Kameramann, der das Leiden filmt. Mal ist man Täter, mal Opfer. Mal Zuschauer und dann wieder mitten im Fokus.

Die Sprecher ­­- Gerrit Ahlers (18 Jahre) aus Bücken, Steffen Thamm (17) aus Twistringen, Sophia von Lingen (17) aus Bücken und Jan Dirk Keine (18) aus Holtrup - sorgen mit sensiblen Sätzen in unaufgeregter, ruhiger Tonlage dafür, dass alle Standpunkte nachvollziehbar erscheinen.

„Ich bin gefangen in meiner Angst. Ich sehe nur zu, ich kann nicht anders“, lassen sie die Gedanken der Menschen sagen, die weggucken. „Ich mache lieber nichts, dann mache ich auch nichts falsch.“

Gleichzeitig wird das Verhalten einer jeden Person hinterfragt. Aber ohne zu urteilen oder einen Vorwurf zu machen. „Es ist wichtig, Anteil am Leid anderer zu nehmen“, ist ein Fazit der Jugendlichen an diesem Abend, „aber das, ohne sie bloßzustellen.“

Als der Gottesdienst endet, laden die Veranstalter noch zu einem Imbiss ein. Bevor am Ende eine fröhliche Gesellschaft zusammen am Tisch steht, lösen sich viele Besucher aus der Menge und gehen noch mal durch den Dom. Schauen sich die Bilder der sieben Stationen an, lesen die Fragen, die neben den Kunstwerken angebracht sind, denken darüber nach und beantworten sie vielleicht im Stillen für sich. Jeder auf seinem eigenen Kreuzweg.

 

Miriam Unger 23.03.2015