„Die aktuellen Regelsätze stimmt nicht mit dem realen Bedarf überein.“

Nachricht Syke, 06. Mai 2016

Antje Pund aus dem Sozialministerium spricht über Kinderarmut und stellt diakonische Hilfsangebote in der Region vor

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„Finanzschwache Familie = Kinder ohne Chancen?“ Aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchteten die Referenten bei der Veranstaltung im Syker Rathaus das Tabuthema der Armut von Minderjährigen. Von links nach rechts: Superintendent Dr. Jörn-Michael Schröder, Bürgermeisterin Suse Laue, Diakonie-Schuldenpräventionsfachkraft Stefan Gövert, Berufsschulpastorin Johanna Schröder, Kirchenkreissozialarbeiterin Katrin Moser, Antje Pund (Referatsleiterin „Grundsatzangelegenheiten der Sozialpolitik“ im niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung) und Marlis Winkler, Leiterin der Diakonischen Werke in der Region. Foto: Heinfried Husmann

LANDKREIS (miu). Man sieht und merkt es vielen nicht an. Aber jedes fünfte Kind in Niedersachsen wächst derzeit in Armut auf. Die betroffenen Kinder und Eltern versuchen diese Tatsache vor der Öffentlichkeit zu verbergen, weil sie sich dafür schämen. „Wir wollen ja gar nichts Besonderes“, sagen die meisten bei der aktuellen Umfrage „Studie zur Armut auf dem Land“ befragten Eltern. „Wir wollen nur, dass unsere Kinder ganz normal zur Schule gehen und im gesellschaftlichen Leben irgendwie dabei sein können.“ Und genau da hakt es schon. Zum Schulanfang fehlen die Bücher. Das Geld für ein Geschenk, ohne das man nicht zum Kindergeburtstag geht. Die Sportschuhe, um im Verein Fußball spielen zu können. Und wer nicht mal kleine Beträge für Kopiergeld übrig hat, der kann sich erst recht den Beitrag für die Klassenfahrt nicht leisten. Oder die richtigen Klamotten. Von Statussymbolen wie Smartphone ganz zu schweigen. Diese Geschichten und Erfahrungen ziehen sich durch alle Beiträge der Redner bei der Veranstaltung „Finanzschwache Familie = Kinder ohne Chancen?“ des Diakonischen Werks im Syker Rathaus.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Armut in einem reichen Land?!“, die das Diakonische Werk gemeinsam mit dem Sozialverband, DGB und Caritas anbietet, begrüßen Diakonie-Geschäftsführerin Marlis Winkler und Superintendent Dr. Jörn-Michael Schröder die Leiterin des Referats „Grundsatzangelegenheiten der Sozialpolitik“ im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Antje Pund, als Referentin. Anschließend stellen Experten aus verschiedenen Fachbereichen innerhalb von Kirche und Diakonie die Problematik von Kinderarmut in der Praxis und ihre Hilfsangebote vor.
Trotz des schwierigen Themas und der Alternativangebote, die ein sonniger Sommertag bietet, sind knapp 50 Gäste ins Syker Rathaus gekommen.

Bürgermeisterin Suse Laue gibt zunächst einen Überblick über die Situation vor Ort: „Armut hier bei uns vor Ort ist ein Problem, das eine sehr heterogene Gruppe von Menschen betrifft: Alte, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund und Haushalte von Geringqualifizierten. Vor allem der Bezug von Wohngeld, Grundsicherung und Leistungen durch das Jobcenter liefern uns Indizien, wie groß die Gruppe der Bedürftigen ist und wie sie sich zusammensetzt.“

Wohngeld beziehen demnach in Syke gegenwärtig 431 Personen. Der überwiegende Teil von ihnen (54 Prozent) ist unter 20 Jahre alt. Mehr als ein Drittel der Leistungen wird von kinderreichen Familien und Alleinerziehenden abgerufen.

„Mangelnde Bildung ist oft eine Ursache, dass  Familien in prekären Verhältnissen leben.“

Die Prognosen weisen laut Laue darauf hin, dass der Anteil der von Altersarmut bedrohten Menschen zukünftig ansteigen wird. „Ursachen sind nicht nur sinkende Renten. Mangelnde Bildungschancen führen zu unzureichender beruflicher Qualifikation und somit zu geringen Erwerbsmöglichkeiten“, führt die Bürgermeisterin aus. „Mangelnde Bildung und Ausbildung sind oft Ursachen, dass Kinder in prekären Verhältnissen leben“.

Für die Kommune bedeute dies, dass Förderung und Bildungsarbeit bereits früh im Kindergarten ansetzen müsse. Die Stadt bietet dazu verschiedene Hilfen an – von Angeboten der Sprach- und Leseförderung über Ganztagstagsschule bis zur Ermäßigung für kulturelle Angebote. „Das sind nur einige Bausteine, um den Folgen von Armut bei Kindern und Jugendlichen entgegenzutreten“, betont Suse Laue. „Generell handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das eine konsequente Kooperation mit lokalen Trägern wie dem Diakonischen Werk ebenso erfordert wie mit der Landespolitik.“

Die Bekämpfung von Kinderarmut sei aktuell ein politisches Schwerpunktthema, erklärt Antje Pund (Leiterin des Referats „Grundsatzangelegenheiten der Sozialpolitik“ im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung) in ihrem Vortrag. „Das Ministerium verfolgt dabei vielfältige Handlungsansätze: Auf Bundesebene werden wir uns für eine ausreichende finanzielle Absicherung einsetzen – konkret: die Erhöhung der Kinderregelsätze. Die aktuelle Höhe der Regelsätze stimmt nicht mit dem realen Bedarf überein. Die Anhebung der Regelsätze Anfang des Jahres war nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Pund. „Noch in diesem Jahr wird der Bundesgesetzgeber die Regelsätze auf der Grundlage der aktuellen statistischen Auswertungen neu bemessen. In diesem Gesetzgebungsverfahren werden wir uns als Land aktiv einbringen und unsere Ziele im Interesse aller Kinder weiter verfolgen.“

„Die Bekämpfung von Kinderarmut ist für uns ein politisches Schwerpunktthema.“

Auch der pauschalierte Betrag aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für den tatsächlichen Schulbedarf reiche nicht aus und müsse dringend neu berechnet werden.

In der Fläche unterstütze die Landesregierung eine Reihe von Angeboten früh ansetzender Hilfen und Projekte – von der finanziellen Unterstützung bis hin zum Angebot von Freizeiten, zählt Pund auf. Die Problematik sei „allerdings vielschichtig und komplex, darum sind wir auf Engagement und starke Partner in der Gesellschaft angewiesen, die vor Ort arbeiten und auf das Problem aufmerksam machen.“

Einige dieser lokalen Angebote und Projekte stellen anschließend Akteure aus dem kirchlichen und diakonischen Bereich in kurzen Impulsreferaten vor. Berufsschulpastorin Johanna Schröder erzählt von Armutsbiografien im System Schule. Anhand eines Beispiels aus ihrem Berufsalltag beschreibt sie sensibel und anschaulich, wie sich bei einem Teenager Anzeichen von Armut zeigen, wie er versucht, die unangenehme Wahrheit mit aggressivem Verhalten und Ablenkungsmanövern zu kaschieren, und wie Schule und Gesellschaft damit umgehen.

Klaus Priesmeier, Superintendent im Kirchenkreis Grafschaft Diepholz, stellt das Angebot des „Schülerhilfsfonds“ vor, der Familien mit geringem Einkommen bei der Anschaffung der Grundausstattung für die Schule finanziell unterstützt.

Kirchenkreissozialarbeiterin Katrin Moser berichtet von ihren Erfahrungen aus dem Projekt „Familien stärken“ und erklärt verschiedene Hilfsangebote des Diakonischen Werkes für Kinder, Jugendliche und Eltern in schwierigen Lebenssituationen. Stefan Gövert, Präventionsfachkraft in der Sozialen Schuldnerberatung berichtet aus seiner Beratungsarbeit in Schulen und Jugendeinrichtungen, stellt Projekte wie den „Finanzführerschein“ vor.

Die nächste Veranstaltung in der Reihe findet am 24. Mai um 18.30 Uhr im Hotel Rosshop in Barnstorf statt. Lars Niggemeyer, Abteilungsleiter beim DGB-Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt spricht an dem Abend über „Armut in Deutschland – Ursachen, Hintergründe und Lösungsansätze“.

Miriam Unger