„Wir sind nicht mehr die, die wir vorher waren“

Nachricht Heiligenfelde, 07. Dezember 2015

„Verwaiste Eltern“ laden zum „Gedenktag für verstorbene Kinder“ am 13. Dezember in Heiligenfelde ein

Verwaiste Eltern Thorns Kossinna Hamann Kirberg
Ein Engel zur Erinnerung: Zu Beginn des „Gedenktags für verstorbene Kinder“  können alle Gäste auf die Holzfiguren Namen von verstorbenen Kindern schreiben, um die sie trauern. Die Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ gestaltet das Programm. Zum Team gehören Anja Thorns, Helga Kossinna, Gisela Hamann und Ulla Kirberg (v.l.) Foto: Miriam Unger

LANDKREIS (miu). Sein Geburtstag ist immer so ein Termin. Sein Todestag sowieso. Und jetzt, wenn das eine Jahr zu Ende geht und das nächste kommt. All diese Feiertage. Es ist fast nicht mehr vorstellbar, dass man die irgendwann mal schön fand. Weil man sie mit der ganzen Familie verbracht hat. Aber wie soll eine Familienfeier noch funktionieren, wenn die Familie nicht mehr komplett ist? „So eine Zeit wie Weihnachten ist ein riesiger Kraftakt, weil bei Familienfeiern immer ganz besonders deutlich wird, dass jemand fehlt“, sagt Susanne Uhlenwinkel. Bei ihr ist es dieses Jahr das vierte Weihnachten ohne Daniel. Helga Kossinna hat ihren ältesten Sohn Florian vor 21 Jahren durch einen Verkehrsunfall verloren; bei den neuen Gesichtern in der Gruppe ist der Verlust noch ganz frisch. Es sind unterschiedliche Daten, Namen und Biografien, aber ob es nun zwei Jahrzehnte oder zwei Monate her ist – das Unfassbare, das das Familienleben von einer Sekunde auf die nächste zerreißt, die ganze Welt ins Wanken bringt und seitdem jeden Tag eine Rolle spielt, ist bei allen gleich.

Durch ihr bisheriges Leben bewegen sie sich plötzlich wie Fremde. In der ersten Zeit versteht das auch jeder. Im Vergleich zu einem toten Kind ist alles unwichtig. Aber irgendwann geht für das Umfeld, für Freunde und den Arbeitgeber das Leben weiter. Der Schock und die Leere bei den Betroffenen bleiben. „Wir sind nicht mehr die, die wir vorher waren“, so beschreibt es Helga Kossinna. „Und zu begreifen, dass sich unser Leben komplett verändert hat, fällt nicht nur uns selber schwer, sondern natürlich auch unseren Mitmenschen.“

Trotz der Trauer sichtbar bleiben

Wohin mit der Trauer, die nicht aufhört, und all den Fragen, auf die es keine Antworten gibt? Viele Betroffene versuchen, ihr Leben wieder aufzunehmen, um eine Stabilität zurückzugewinnen. Aber irgendwie scheinen sie so, wie sie jetzt sind, gar nicht mehr hinein zu passen – in diese Gesellschaft, in ihren Bekanntenkreis, an ihren Arbeitsplatz, in ihre Beziehungen… Manche Eltern, die ein Kind verloren haben, laufen Gefahr, in dieser Phase irgendwie zu verschwinden. Sie ziehen sich zurück aus dem Blickfeld ihres neugierigen oder genervten, verständnisvollen oder unverständigen, ratlosen oder überforderten Umfelds.

Die Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ im evangelischen Kirchenkreis Syke-Hoya hilft Betroffenen, mit ihrem Schicksalsschlag umzugehen. Und dabei, dass die Trauernden, ihr totes Kind und das Thema in der Gesellschaft sichtbar bleiben.

Jeden ersten Dienstag im Monat treffen sich Mütter und Väter, die ihre Kinder verloren haben, ab 20 Uhr im Gemeindehaus Bruchhausen. „Im Moment sind wir knapp 20 Betroffene aus der ganzen Region – die Eltern kommen aus Asendorf, Bassum, Blender, Bruchhausen-Vilsen, Diepholz, Eystrup, Kirchweyhe, Rethem, Schwaförden, Schwarme, Sulingen, Twistringen und Verden“, erklärt Anja Thorns, die nach dem Tod ihres Sohnes Danek 1999 selbst als Hilfesuchende kam und die Gruppe inzwischen als ausgebildete Trauerbegleiterin unterstützt. In diesem geschützten Raum können sich die Eltern austauschen und erinnern, gegenseitig stützen und trösten.

„Mir hilft diese Gruppe sehr, weil man sich dort so zeigen kann, wie man ist“, sagt Ulla Kirberg. „Man muss nicht funktionieren. Im Alltag setzt man ja nach einiger Zeit oft eine Maske auf.“ Susanne Uhlenwinkel nickt: „Nach außen eine Maske aufzusetzen hilft natürlich in einigen Situationen. Wenn man jahrelang immer nur traurig durch die Gegend läuft und seine Schwäche zeigt, will ja irgendwann keiner mehr was mit einem zu tun haben. Das ist für andere Leute schwer. Aber sich zu verstellen ist für einen selbst auch unheimlich anstrengend. Bei den ,Verwaisten Eltern‘ machen alle das Gleiche durch, dadurch können wir ganz anders miteinander reden und uns durch den Austausch unserer Erfahrungen oft mehr helfen, als es Nichtbetroffene mit gutgemeinten Ratschlägen können.“

Gottesdienst nimmt vielen die Schwellenangst

Wenn neue Mitglieder dazukommen, bekommen sie erst mal Raum, um zu erzählen und sich mit den anderen auszutauschen. Aber Anja Thorns ist es auch wichtig, den Betroffenen Impulse und praktische Hilfestellungen anzubieten, um mit der Situation umzugehen und auch während der Trauerarbeit die Gegenwart und Zukunft nicht aus dem Blick zu verlieren.

Ein wichtiger Termin im Jahr ist für die „Verwaisten Eltern“ der „Weltgedenktag für verstorbene Kinder“ am zweiten Sonntag im Dezember. Jedes Jahr gestalten sie in einer anderen Kirche in der Region an diesem Tag eine Veranstaltung mit Texten, Geschichten, Musik, Andacht und Aktionen. Am kommenden Sonntag, 13. Dezember, laden die Mütter und Väter um 9.30 Uhr in die Michaeliskirche in Heiligenfelde ein. In diesem Jahr werden sie am Eingang Holzengel verteilen, auf die die Besucher Namen von Kindern schreiben können, um die sie trauern und an die an diesem Tag ganz besonders gedacht werden soll.

„Es ist kein typischer Gottesdienst mit einer festen kirchlichen Liturgie, sondern einfach nur ein Angebot für alle, die ein Kind verloren haben. Aber auch für Freunde, Verwandte, Nachbarn und alle anderen“, erklärt Anja Thorns. „Man muss nicht Mitglied einer Kirche sein – wir sind für alle da.“

Viele Betroffene sind über diese Veranstaltung zu den „Verwaisten Eltern“ gekommen. Der Schritt in eine Selbsthilfegruppe schien ihnen anfangs einfach zu groß und zu persönlich. Der Gang in ein evangelisches Gemeindehaus sicherlich auch. Viele Mitglieder der „Verwaisten Eltern“ haben nach dem Verlust ihrer Kinder ein kritisches Verhältnis zu Gott.

Gisela Hamann hatte Schwellenangst, weil sie unsicher war, ob eine Selbsthilfegruppe mit anderen trauernden Eltern sie nicht noch mehr runterziehen statt stärken würde: „Man hat ja so massiv die eigene Trauer, und ich dachte: Dann kommt auch noch die Last von anderen dazu?“, erinnert sie sich. „Heute bin ich froh, dass mir der Gottesdienst den Einstieg in die Gruppe so erleichtert hat. Man kann einfach hingehen, zuhören und muss noch gar nichts von sich preisgeben. Aber dann habe ich mich doch getraut, nach dem Gottesdienst mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Und es war schön, mit anderen zu sprechen, die das Gleiche erlebt haben.“

Miriam Unger