Dr. Christina Ernst, Pastorin in Twistringen, im Gespräch über ihren Beruf, ihre Blindheit und Bilder in Sozialen Medien
TWISTRINGEN. Die Kisten sind noch nicht ausgepackt, die Küche ist noch nicht da, aber Dr. Christina Ernst ist schon mittendrin im Twistringer Trubel. Konfirmandenunterricht, Kirchenvorstandssitzung, die erste Beerdigung, sogar beim Einkaufen wird sie im Ort schon erkannt. Am kommenden Sonntag, 28. Februar, wird die 32-Jährige offiziell in ihr Amt als Pastorin eingeführt. Landessuperintendentin Dr. Birgit Klostermeier leitet den Ordinationsgottesdienst in der Twistringer Martin Luther-Kirche um 15 Uhr. Christina Ernst ist in Göttingen geboren und in der Wedemark (Region Hannover) aufgewachsen. Sie hat in Göttingen und Zürich Theologie studiert, zum Thema „Social Media und Selbstdarstellung auf Facebook aus theologischer Perspektive“ promoviert und ihr Vikariat in der Stadtkirche St. Marien in Celle absolviert. Was es sonst noch zu erzählen gibt, verrät die junge Pastorin im Interview.
Frau Ernst, am Sonntag werden Sie von der Landessuperintendentin offiziell in Ihr Amt als Pastorin eingeführt. Was wird für Sie der wichtigste Moment im Ordinationsgottesdienst sein?
Christina Ernst: Am Altar zu stehen und den Segen zu sprechen – das erste Mal als ordinierte Pastorin.Jede Kirche hat ihre eigene Ausstrahlung. Ich lasse immer erst mal den Raum und die Akustik auf mich wirken. Vorne am Altar spüre ich die Geschichte des Gebäudes. Dann denke ich: Hier sind so viele Dinge passiert, so viele Menschen schon gewesen, die ihren Glauben gefeiert haben. Ich berühre den Altar gerne, denn das ist ein sehr starker Ort, weil dort der Segen gesprochen wird. Diese Handlung ist für mich ganz stark aufgeladen, und das wird durch so einen Moment sicherlich noch verstärkt. Dass ich diese Kraft zum ersten Mal weitergebe, aber hoffentlich auch selber bekomme. Ich glaube, das ist für mich DER Moment.
Wann war Ihnen klar, dass Sie Pastorin werden möchten?
Ich bin relativ kirchenfern aufgewachsen. Ich war zwar getauft und im evangelischen Kindergarten, wir sind Weihnachten in die Kirche gegangen, aber der Glaube hat für meine Familie keine große Rolle im Alltag gespielt. Mein erster richtiger Kontakt zur Kirche kam durch den Konfirmandenunterricht. Da war ich in der vierten Klasse und fasziniert von der Kirche, von den Gottesdiensten, von diesem Heiligen, was transportiert wurde. Aber mein Berufswunsch war damals noch Journalistin. In der elften Klasse ging ich für einen Schüleraustausch ein halbes Jahr lang nach Kanada. Ich wohnte bei einer mennonitischen Familie, dort wurde Religion im Alltag sehr stark gelebt. Ich habe die Kirche in Kanada ganz anders erlebt als hier. Diese Gemeinschaft, diese Nähe der Menschen, und dass ich ein Teil davon sein konnte. Durch die vielen Gespräche und Begegnungen mit anderen Konfessionen habe ich in dieser Zeit meinen eigenen Glauben entdeckt. Eines Tages sagte jemand zu mir: „Du kannst doch auch Pastorin werden!“ Erstaunlich, darüber hatte ich vorher nie nachgedacht. Mich interessierte dieses vielfältige Studium, auch als Wissenschaft. Ich hatte immer mal wieder starke Gottesdienste erlebt oder Begegnungen mit charismatischen Personen in meiner Gastfamilie und mit Vikaren in unserer Kirchengemeinde, bei denen ich gemerkt habe: Die sind glaubwürdig. Die vermitteln mir eine Botschaft. Und sie haben ihren eigenen Weg gefunden mit der Kirche. Das wollte ich auch. Und so kam ich zurück mit dem Entschluss: Ich studiere Theologie.
Wie hat die „relativ kirchenferne“ Familie auf den neuen Berufswunsch reagiert?
Meine Eltern waren beruhigt. Weil sie wussten: Wer Theologie studiert, wird Pastor. Wenn ich mich für Philosophie entschieden hätte, wäre unklar gewesen, in welchem Beruf das enden soll (lacht). Meinen Eltern war klar: Wenn ich mir das überlegt habe, bin ich eh nicht mehr zu stoppen. Und sie hatten Vertrauen, dass das, was ich anpacke, schon gut sein wird. Denn mein Leben ist immer ziemlich geradlinig verlaufen, ohne große Umwege.
Konnte Ihre Familie denn mit dem Inhalt des Berufs etwas anfangen?
Ja. Meine Familie ist mit mir zusammen zur Kirche gekommen – als ich im Konfirmandenunterricht war, hat meine Mutter auch angefangen, sich zu interessieren. Sie hat erst im Konfirmandenunterricht mitgearbeitet, dann ist sie in den Kirchenvorstand gegangen, Lektorin geworden... Inzwischen ist sie sogar Prädikantin und voll dabei in ihrer Kirchengemeinde.
Wie ging es nach dem Entschluss, Pastorin zu werden, für Sie weiter?
Ich habe in Göttingen und Zürich Theologie studiert. Bevor ich ins Vikariat ging, habe ich noch in systematischer Theologie promoviert. Es ging um die Selbstdarstellung auf Facebook aus theologischer Perspektive und wie die Sozialen Netzwerke unsere Beziehungen verändern.
Wie verändern die Sozialen Netzwerke denn unser Leben Ihrer Meinung nach?
Die Kommunikation tritt in den Vordergrund. In allen Bereichen unseres Lebens. Kirche ist heute ja auch nicht mehr nur dort, wo Leute im Gottesdienst zusammensitzen, sondern da, wo über Glauben gesprochen wird. Man kann heute etwas gemeinsam machen und sich verbunden fühlen, ohne physisch anwesend zu sein. Es gibt ganz andere Möglichkeiten, zu kommunizieren, sich auszudrücken und sich selbst zu entwerfen. Für meine Arbeit habe ich mir von verschiedenen Menschen ihre Profilfotos beschreiben lassen, und ich fand es spannend, dass so viele Leute sich auf ihren Profilbildern unkenntlich machen. Obwohl sie gefunden werden wollen, sonst wären sie ja nicht auf Facebook. Dieser Zwiespalt ist ja ein sehr theologisches Thema: Dass man selbst nie vollständig sichtbar wird, weil es zu unserem Leben gehört, dass immer ein Stück Unverfügbarkeit bleibt. Denn wir haben unser Leben nie ganz selbst in der Hand. Wir haben es geschenkt bekommen. Dadurch bleibt immer etwas unklar, egal wie hoch der Kommunikationsdruck ist. Man kann alle möglichen Bilder und Informationen von einer Person abrufen, im Grunde bräuchten wir uns gar nicht mehr zu unterhalten, das könnte man auch alles googeln. Und darum brauchen wir diese Unverfügbarkeit und betonen sie. Um klar zu machen: Das ist nur ein Bild von mir. Es ist inszeniert, man darf es nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn Du etwas über mich wissen willst, kannst Du mich googeln. Aber wenn Du mich kennenlernen und wissen willst, wie ich wirklich bin, dann reicht es nicht, auf ein Profil zu gucken. Dann musst Du mich persönlich treffen und Dir ein Bild machen.
Sehen Sie Soziale Netzwerke als Bereicherung oder als Bedrohung?
Ich finde es wichtig, nicht immer nur die Beschleunigung und Technisierung zu fürchten, sondern an den neuen Medien beides wahrzunehmen – Positives und Negatives.
Sie selbst können nicht sehen. Warum war es Ihnen so wichtig, sich ausgerechnet mit Bildern zu beschäftigen?
Für mich und meine Familie war es immer wichtig, dass ich trotz meiner Erblindung ein normales Leben führe und alles mache, was andere auch machen. Ich bin nicht zu Hause oder in einer Förderschule unterrichtet worden, sondern immer an Regelschulen im Ort, wo ich integrativ beschult wurde. Dafür haben sich meine Eltern sehr eingesetzt. Die Maxime war immer: Alles, was möglich ist, mache ich auch. Reit- und Musikunterricht, Sport, Auslandsaufenthalt… Nur Autofahren nicht.
Wie sind Sie blind geworden?
Als Kind mit knapp vier. Ich hatte Krebs auf der Netzhaut.
Sie sind gerade für Ihre erste Pfarrstelle nach Twistringen gezogen. Alles ist hier noch neu und unbekannt für Sie. Wer oder was hilft Ihnen, sich zurecht zu finden?
Erst mal das Orientierungs- und Mobilitätstraining, das mir vom Integrationsamt finanziert wird. Dafür war ich in den ersten Tagen mit einer Trainerin unterwegs, die mit mir die Wege geht und den Ort erklärt.
Für mich ist es zuerst immer interessant, die Grundstruktur eines Ortes zu wissen. Damit man eine Idee bekommt, wie alles aufgebaut ist. In Zürich war es der See, um den herum sich alles anordnet. Hier gibt es die Hauptstraße, an der es einen Platz gibt und von der zwei Straßen abgehen, die wichtig sind. Wenn man diese Informationen hat, schlägt man erste Schneisen durch den Ort – die Wege, die man braucht. Bei mir waren das als erstes Friedhofskapelle und Supermarkt. Alles andere ordnet sich dann darum herum: Wenn ich beim Supermarkt bin, ist die Bank in der Nähe, ein paar Geschäfte und die katholische Kirche. So erschließe ich mir eine Stadt Stück für Stück.
Haben Sie einen Blindenhund oder Navigationshilfen für den Alltag?
Nein. Im Zweifelsfall verlaufe ich mich, und dadurch lerne ich auch wieder neue Wege kennen. Aber die Menschen sind sehr aufmerksam hier. Gestern war ich unterwegs, und es kommen immer Leute und helfen.
Begegnen Ihnen die Menschen hier sofort offen, oder haben viele erst mal Berührungsängste?
Beides. Die meisten waren bisher sehr offen und freundlich. Gleichzeitig ist mir aber auch klar, dass es für viele etwas Neues, Unbekanntes ist – es kommt einfach nicht so oft vor, dass jemand mit Blindenstock hier rumläuft. Und dann kann man sich vielleicht auch nicht ganz so vorstellen, wie das funktionieren soll. Da hilft nur, dass man sich kennenlernt und ganz viel fragt.
Ihnen tritt niemand zu nah, wenn er seine Unsicherheit direkt anspricht?
Nein. Ich habe gerade die Konfirmandengruppe übernommen, und gleich gesagt: „Seid direkt, Ihr könnt alles fragen!“. Das funktioniert gut. Die meisten hier haben sich aber auch von selbst schon viele Gedanken gemacht. Zum Beispiel hat mir der Kirchenvorstand zur Begrüßung einen Blumenstrauß geschenkt, und weil Rosen im Geschäft heutzutage ja nicht mehr duften, haben sie extra Lilien und Hyazinthen reinbinden lassen. Und so denken viele mit und reagieren richtig. Meine erste Beerdigung habe ich auch schon gemeinsam mit dem Bestatter sehr schön hinbekommen. Wir sind vorweggegangen, und er hat einfach die Urne in die eine Hand und mich an die andere genommen. Das war sehr harmonisch. Ein guter erster Kontakt.
Was ist, wenn Sie Besuche machen müssen im Krankenhaus oder in Dörfern, die weiter außerhalb liegen?
Manchmal bieten Leute an, mich hinzubringen oder abzuholen. Und sonst rufe ich mir ein Taxi. Ich werde aber auch eine Arbeitsassistenz bekommen, die vielleicht mal eine Fahrt übernimmt. Ich habe einen Antrag für 40 Stunden Unterstützung gestellt, die Stelle teilen sich dann zwei Personen. Eine habe ich hier schon gefunden. Die Arbeitsassistenz macht dann so Sachen wie Post mit mir sortieren und durchgehen, Formulare ausfüllen, Materialien für den Konfirmandenunterricht beurteilen und besorgen – sie unterstützt mich bei Sachen, bei denen man hingucken muss. Aber sie ist nicht bei jedem Schritt und Tritt dabei. Bei Gottesdiensten, Taufen und Trauungen brauche ich sie nicht.
Wie orientieren Sie sich in der Kirche, um schnell die Wege zum Altar, zum Taufbecken oder auf die Kanzel zu finden?
Man muss sich Markierungspunkte suchen. In der Stadtkirche in Celle, in der ich im Vikariat gearbeitet habe, war der Altarraum wirklich riesig – da haben mir verschieden angeordnete Teppiche geholfen. Das sind so praktische Tricks. Ich werde vielleicht in die Friedhofskapelle durch einen anderen Eingang kommen, als es die Leute gewohnt sind und werde für manche Dinge noch meine eigenen Lösungen finden. Aber im Endeffekt macht das doch jeder – seinem persönlichen Stil folgen und das tun, was zu ihm passt.
Sie kommen aus einer Innenstadt-Gemeinde jetzt hierher, mitten aufs Land. Eine große Umstellung?
Schon. Wegen des Ortes, aber auch wegen des Berufes. In Celle war es etwas mehr wie eine Arbeit, zu der man hin-, aber auch wieder weggeht. Hier wohne ich im Pfarrhaus mitten im Ort und bin immer ansprechbar. In dem Moment, wo ich rausgehe und einkaufen gehe, werde ich als Pastorin erkannt und angesprochen. Auch beim Einkaufen. Man ist hier weniger Privatperson.
Was tun Sie, wenn Sie mal Zeit für sich haben?
(lacht) Das ist bisher noch nicht vorkommen. Ich war vom ersten Tag an gleich voll drin. Die erste Beerdigung hatte ich schon; ich bin gleich in den Konfirmandenunterricht eingestiegen, die 28 Jugendlichen konfirmiere ich nach Ostern. Das volle Leben. Es gab noch keine Zeit, um Kisten auszupacken. Aber es macht Spaß.
Haben Sie eine Leidenschaft?
Ich habe lange Zeit Gitarre gespielt, das würde ich gerne wieder aufgreifen. Ich mache Fitness, Sport ist für mich ein wichtiger Ausgleich. Ich bin gerne draußen in der Natur. Mein Vater ist Förster – ich mag es, im Wald zu sein. Aber auch am Meer. Reisen ist eine Leidenschaft. Ich entdecke gerne andere Länder und Menschen abseits der Tourismus-Magneten. Im Herbst habe ich eine Freundin getraut, die nach Kapstadt ausgewandert ist – das war toll. Ihr Mann kommt aus dem Kongo, wir haben eine deutsch-afrikanische Hochzeit gefeiert. Der Urlaub war ein richtiges Abenteuer für mich. Wir waren auf dem Tafelberg und am Kap der guten Hoffnung – kraftvolle, religiöse Orte. Einfach faszinierend.
Was genau hat Sie daran so fasziniert? Wie erleben Sie diese Orte, wenn Sie sie nicht sehen können?
Ich nehme das über Atmosphäre wahr, über Sinneseindrücke. Oft auch über die Menschen, mit denen ich zusammen da bin, die mir beschreiben, was sie sehen. Dass wir über den Wolken sind; wie die aussehen, und dass die Möwen unter uns kreisen zum Beispiel. Oft ist es ja auch so, dass man an einem eindrucksvollen Ort auch beeindruckt sein kann, ohne die Aussicht zu haben. Am Kap der guten Hoffnung sprühte an einem stürmischen Tag die Gischt, überall flog Schaum herum. An einem anderen Tag war es windstill, die Sonne brannte, der Strand war leer, man spürte diese Weite. Das waren atmosphärisch ganz starke Momente, die ich sehr durch Geruch und Gehör wahrnehmen konnte. Und durch Menschen, mit denen man es teilt.
Was gibt Ihnen so viel Sicherheit? Ihr Glaube?
Ja, der Glaube ist schon etwas, das mich im Leben trägt. Das mir so ein Grundvertrauen gibt, zu wissen: Ich komme zurecht. Egal, wo ich hinkomme. Auch, wenn ich Neuanfänge mache und noch nicht weiß, wie es wird – so wie jetzt. Ich weiß: Ich habe ein Fundament, das nie in Frage gestellt ist. Etwas, worauf ich immer zurückgreifen kann.
Was für eine Pastorin bekommt Twistringen mit Ihnen?
Ich bin ein positiv eingestellter Mensch, neugierig auf Begegnungen und auf alle Leute um mich rum. Die negativen Eigenschaften sollen die Leute mal selbst rausfinden. Oder noch mehr positive.
Miriam Unger